Wahrnehmen - bewegen - lernen ...

Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Kinesiologie stieß ich auf einen Fachartikel der Diplom-Sozialpädagogin Dorothea Beigel zum Thema „Die Auswirkung persistierender frühkindlicher Reflexe auf Wahrnehmen, Bewegen, Lernen und Verhalten“: „Der Mensch wird, um zu überleben und um auf die Umwelt adäquat zu reagieren, schon vorgeburtlich mit sogenannten frühkindlichen oder primitiven Reflexen ausgestattet. Jeder dieser Reflexe ist in der normalen Entwicklung eines Menschen vorgesehen und erfüllt seine Aufgabe zu ganz bestimmten Zeitpunkten. Es sind stereotype, automatische Bewegungen, die vom Hirnstamm gelenkt werden und ohne Beteiligung des Cortex ausgeführt werden. Hat ein Reflex seine Aufgabe in einem bestimmten zeitlichen Rahmen erfüllt, so wird er zugunsten von Bewegungsmöglichkeiten, die auf höherer Ebene der Gehirnentwicklung stattfinden, abgebaut und integriert. Bleiben frühkindliche Reflexe nach dem 12. Lebensmonat noch aktiv, so deutet dies auf eine Unreife des Zentralnervensystems hin ...“


Frühkindliche Reflexe

  • sind aufeinander aufbauende Entwicklungsabschnitte bei der biologischen Entwicklung des Menschen,
  • werden bei einer gesunden Entwicklung zurückgebildet oder integriert,
  • und können bei einer gestörten Entwicklung zu Lernschwierigkeiten führen.

So erfuhr ich zu meinem großen Erstaunen, dass es zu Lernbeeinträchtigungen führen kann, wenn diese frühkindlichen Reflexe nicht entwicklungsbedingt abgebaut oder integriert werden.

Nicht entwicklungsbedingt abgebaute oder integrierte frühkindliche Reflexe können zu Lernbeeinträchtigungen führen, ohne das es bemerkt wird.

Durch die anthroposophische Entwicklungslehre weiß ich, wie wichtig eine altersgerechte Entwicklung bei Kleinkindern ist und wie wenig sinnvoll es ist, Kindern etwas abzufordern, wenn sich ihre Sinne noch nicht entsprechend entwickelt haben. Daher klingt es für mich logisch, dass es zu Behinderung beim Lernen kommen kann, wenn sich bestimmte Reflexe nicht vollständig ausgebildet oder zurückentwickelt haben. Als sehr interessant stellte sich für mich deshalb ein Vortag einer Logopädin heraus, die den Zuhörern anschaulich demonstrierte:

Sprachstörungen bei Schulkindern,
die auf nicht abgeschlossenen Entwicklungsschritten beruhten,
lassen sich mit Bewegungsübungen behandeln – und das mit großem Erfolg.

Nach diesem Vortrag war mir unter anderem klar, wie wichtig genügend körperliche Bewegung für den Aufbau der Muskulatur ist. Ist die Muskulatur eines Kindes oder eines Erwachsenen nicht trainiert, fällt bereits das Sitzen schwer. Die Aufmerksamkeit des Lernenden gilt dann nicht wie gewünscht dem Lernstoff, sondern immer wieder dem eigenen Körper. Die Person ist ständig damit beschäftigt, eine bequeme, nicht schmerzende Sitzposition für sich zu finden, sodass die Konzentration auf den Lernstoff schwerfällt.

Um Genaueres zu erfahren, forschte ich im Internet, was frühkindliche Reflexe sind. Das Institut für Angewandte Kinesiologie GmbH beschreibt es so: „Frühkindliche Reflexe sind automatische, immer gleich ablaufende motorische Reaktionen, die von Hirnstamm und Rückenmark ausgehen. Jeder Mensch wird mit einem Set von frühkindlichen Reflexen geboren, die dem Überleben dienen. Mit fortschreitender Gehirnentwicklung entwickelt sich die Willkürmotorik. Dazu müssen die frühkindlichen Reflexe gehemmt bzw. integriert und in die so genannten Haltungsreflexe überführt werden, die ein Leben lang benötigt werden. Normalerweise verläuft dieser Entwicklungsprozess innerhalb des ersten (bis vierten) Jahres. Während des Prozesses der Reflexintegration erlernt das Kind z .B. die differenzierte Willkürmotorik sowie die umfassende neurologische Informationsverarbeitung im Gehirn.
Bei einer nicht vollständig abgeschlossenen Reflexintegration bleiben Restreaktionen der frühkindlichen Reflexe bestehen und wirken sich z .B. erschwerend auf die Entwicklung der Hand-Augen-Koordination, der visuellen und auditiven Wahrnehmungsverarbeitung, der Konzentration, Sitzhaltung, Haltungskontrolle und Orientierung sowie auf die Sprache der sozialen und emotionalen Kompetenz aus.“


Welche Auswirkungen hat das auf Erwachsene?

Bei der kindlichen Entwicklung bezieht man die Möglichkeit einer fehlenden Reflexintegration im Rahmen der Behandlung von Lernstörungen mit ein. Doch wie ist es bei den Erwachsenen? Wie geht man mit solchen nicht abgeschlossenen Entwicklungsfragmenten bei erwachsenen Menschen um? Logischerweise müssten nicht abgeschlossene frühkindliche Reflexentwicklungen auch bei Erwachsenen zu Lernschwierigkeiten führen. So ist es auch – doch auch hier gibt es Hilfe.

Die Gehirnforschung zeigt uns anhand vieler interessanter Forschungsergebnisse, wie Gehirnaktivitäten durch Bewegung auf andere Gehirnareale verlagert werden können, wenn ein Gehirnbereich ausfällt, zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder einer Tumorentfernung. Durch ein gezieltes Bewegungstraining werden neue Nervenverknüpfungen im Gehirn aufgebaut und neue Gehirnareale aktiviert, die dann die Aufgaben der ausgefallenen Areale übernehmen.

Durch gezielte Bewegungsübungen können nicht abgeschlossene Reflexentwicklungen behandelt werden.

Dieses gezielte Trainieren führt zur Auflösung der Entwicklungsverzögerungen. Nicht bestehende Neuronenverbindungen werden neu geknüpft mit dem Ergebnis, dass die Person in sich neue Potentiale entdecken und entwickeln kann. Wieder einmal zeigt sich: „Eine gesunde Entwicklung ist nur möglich, wenn ein Entwicklungsschritt beendet ist und der nächste auf dem abgeschlossenen aufbauen kann.“

Diese spezielle Behandlung zur Reflexintegration sollte nur von ausgebildeten Therapeuten vorgenommen werden!


 Insel des Lernens und des Wissens

In ihrem Artikel „Verblüffend anpassungsfähig: Das menschliche Gehirn“ (Psychologie heute 1/2003) zitiert Ingrid Glomp:

„In der Öffentlichkeit wird propagiert, dass die Struktur des Gehirns unmittelbar aufgrund genetischer Anweisungen entsteht. Das ist aber nicht so. Das Gehirn wächst und entwickelt sich als Reaktion auf die Erfahrungen der jeweiligen Person.“ (Jonathan Marks) Und sie beschreibt, dass das Gehirn viel flexibler ist, als man glaubt. Im Wechselspiel mit der Umwelt verändert es ständig seine Struktur. Jede Lernerfahrung formt das Gehirn. Es bleibt plastisch bis ins Alter.


Bewegung ist für das Gehirn das A und O,
denn die Erfahrung der Bewegung im Raum fördert das räumliche Denken und das Abstraktionsvermögen.

Bringe ich die Bereiche – nicht abgeschlossene Reifeprozesse, Möglichkeit des Nachholens dieser Entwicklungsverzögerungen auch noch im Alter sowie die Plastizität und Formbarkeit des Gehirns – zusammen, erschließen sich mir ganz neue Potentiale für jeden Lernenden: Das Schlüsselwort heißt Bewegung.